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20. Juli 2024

Energieplanung mit Algorithmen

Der Wandel zu einem erneuerbaren Energiesystem eröffnet einen schnell expandierenden Lösungsraum. Fachpersonen müssen aus vielen Möglichkeiten die geeignetste Lösung finden. Dabei braucht es eine Güterabwägung zwischen Zuverlässigkeit, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit. Diese Arbeit wird mit umfassenden Daten und Algorithmen unterstützt.

Um das Klimaziel netto null Treibhausgas-Emissionen im Jahr 2050 zu erreichen [1], muss prioritär das heutige Energiesystem umgebaut werden. Werden die heutigen Energieverbraucher ausschliesslich mit CO2-freier Energie versorgt, ist die Voraussetzung geschaffen, damit sämtliche Wirtschaftszweige klimagerecht produzieren und sich privat klimagerecht verhalten können. Eine solche Transformation geht einher mit der Steigerung der Energieeffizienz und dem Erschließen erneuerbarer Energiequellen wie Sonne, Wind, Biomasse, Geothermie, Gewässer usw.[2]

Der Technologiemix eines Energiesystems, welches vollständig durch erneuerbare Energien betrieben wird, ist vielfältiger als das heutige, öl- und gas-dominierte Energiesystem. Um die mannigfachen Energiequellen zu nutzen, aber auch, um deren Einsatz dem Bedarf anzupassen, braucht es diverse technische Lösungen, wie Solaranlagen, Erdwärmesonden, Speichersysteme, Wärmepumpen, Wärme-Kraft-Kopplungsanlagen (WKK) und Fernwärmesysteme. Zusätzlich garantieren interagierende Energiemanagement-Systeme einen sicheren und effizienten Betrieb.

Eine weitere Entwicklung ist in der Struktur und Organisation des Energiesystems zu erkennen. Erneuerbare Energiequellen sind von Natur aus kleinskalig und treten verteilt im urbanen und ländlichen Raum auf. Die lokale und regionale Nutzung solcher Energiequellen bringt wirtschaftliche Vorteile und steigert die Energieeffizienz. Dezentrale Energiesysteme1) sind Konzepte, welche die Transformation des Energiesystems vorantreiben.[3]

Definiert werden sie als ein Zusammenschluss von mehreren Gebäuden in einem Quartier oder Areal, welche vorwiegend erneuerbare Energien sowie verschiedene Umwandlungs- und Speichertechnologien gemeinsam nutzen (Bild unten).

Technologien und Infrastrukturen für urbane, dezentrale Energiesysteme.

Das Konzept der dezentralen Energieversorgung brachte und bringt eine Grosszahl an neuen Produkten und Dienstleistungen hervor. Diese Zunahme der Innovationstätigkeit im Energiesektor ist entscheidend, um das Netto-Null-Ziel zu erreichen. Auf dem Weg zu diesem ehrgeizigen, aber realistischen Ziel muss eine Vielzahl von Entscheidungen getroffen werden. Hervorgerufen durch neue Produkte und Dienstleistungen2) erweitert sich die Auswahl an möglichen Lösungen kontinuierlich (Bild unten). Die Frage stellt sich: Wie kann ein Energieplaner in einem schnell expandierenden Lösungsraum die wirkungsvollste Lösung für sein Projekt finden?

Treibhausgasemissionen der verschiedenen Sektoren gemäss CO2-Monitoring des Bafu.[9] Der expandierende Lösungsraum (grüne Wolke), welcher neue Technologien bereitstellt, beeinflusst den Absenkpfad (grüne Linie, 15 % jährliche Reduktion).

Energieversorgungs-Trilemma

Um sich im immer grösser werdenden Lösungsraum zurechtzufinden, braucht es Orientierungshilfen. Damit können Energieplaner die verschiedensten Produkte und Dienstleistungen vergleichen und die am besten geeignete Lösung für ihr Energieversorgungsprojekt auswählen. In den letzten Jahren haben sich drei Beurteilungskriterien als Orientierungshilfen hervorgetan: Zuverlässigkeit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit des Energiesystems. Diese drei Kriterien gilt es zu maximieren, um die beste Lösung für das jeweilige Projekt zu erhalten. Wie so oft stehen die Kriterien in einer Wechselwirkung. Wird beispielsweise die Nachhaltigkeit verbessert, verschlechtert sich die Wirtschaftlichkeit und umgekehrt. Zwischen den drei Kriterien muss eine Güterabwägung stattfinden, oder eben: Das Energieversorgungs-Trilemma muss bewältigt werden (Bild unten).

Grafische Darstellung des Trilemmas der Energieversorgung.

Der Energieplaner muss hunderte, wenn nicht Tausende von möglichen Technologien und Technologiekombinationen in diesem Trilemma beurteilen und die beste respektive die optimale Lösung mittels Güterabwägung für sein Projekt finden. Es ist unschwer erkennbar, dass mit den herkömmlichen Planungsinstrumenten - vornehmlich excel-basierte Berechnungs-Tools - das Finden von optimalen Lösungen im Trilemma sehr zeitaufwendig und zum Teil nur mit kritischen Vereinfachungen möglich ist. Die Digitalisierung unterstützt Energieplaner heute bei der Suche nach der optimalen Lösung.

Digitalisierung schafft Klarheit im Trilemma

Die Datenerfassung im urbanen Gebiet wird immer umfassender. Mit Satellitendaten und Luftaufnahmen können digitale 3D-Modelle von Städten, Dörfern und Quartieren erstellt werden. Bestehende und neue Infrastrukturen werden mittels GIS- und BIM-Daten erfasst und ermöglichen die Anfertigung von geo-referenzierten, digitalen Modellen für den Hoch- und Tiefbau. Aufzeichnungen anonymer Bewegungsprofile von Menschen in Städten nutzen einerseits Technologieunternehmen wie zum Beispiel Google für kundenspezifische Werbung, anderseits können statistisch relevante Nutzungsprofile für Restaurants, Läden oder Büros erstellt werden. Die daraus resultierenden Lastprofile können die Planung und den Betrieb von Energiesystemen verbessern, indem zum Beispiel die Dimensionierung der technischen Anlagen und der Betrieb auf die fluktuierenden Energiequellen wie Sonne und Wind abgestimmt werden.[4]

Dies sind nur ein paar einzelne Beispiele, wie aus der "Datenquelle Stadt" ein Nutzen für Energiesysteme gewonnen werden kann. Die Datenbasis ermöglicht nicht nur, aktuelle Informationen über den Zustand der Energieversorgung bereitzustellen, sondern erlaubt auch, Szenarien für das zukünftige Energiesystem zu entwickeln. Ob eine Wärme-Kraft-Kopplung mit synthetischem Gas im Quartier X in der Stadt Y sinnvoll ist, kann dank Daten und Algorithmen simuliert und optimiert werden. Die Ergebnisse können zur Beurteilung der drei Kriterien Zuverlässigkeit, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit herangezogen werden. Die Wirkung kann im Trilemma dargestellt werden und hilft Energieplanern, zum Beispiel die WKK-Lösung im Vergleich mit anderen Versorgungsvarianten zu beurteilen.

Muss nicht nur eine Technologie untersucht, sondern verschiedene etablierte und neue Technologien sowie deren Kombination beurteilt werden, braucht es leistungsfähige Computer und Algorithmen (siehe auch Machine Learning3)). Aus diesem und vielen weiteren Bedürfnissen4) zur Nutzung von urbanen Daten ist die Disziplin "Urban Informatics" (UI) entstanden. Das Ziel von UI ist, große, vielfältige Datensätze zu analysieren und zu verstehen.[5-7] Im vorliegenden Fall wird damit Klarheit im Trilemma geschaffen, um fundierte Entscheidungen treffen zu können.

Optimale Lösungen finden und anbieten

Aus dem Bereich UI sind leistungse Instrumente für die Planung und den Betrieb von komplexen Systemen - wie dezentralen Energiesystemen - hervorgegangen. An der Empa und der ETH Zürich sowie im Rahmen des SCCER-FEEB&D5) wurden in den letzten sieben Jahren Algorithmen entwickelt, welche die Planung und den Betrieb von dezentralen Energiesystemen unterstützen.[8] Basierend auf verschiedenen Datenquellen können digitale Modelle von heutigen und zu-
künftigen Energiesystemen erstellt werden. Anhand dieser Modelle werden Energieströme simuliert und Energiesysteme optimiert.

Das Ziel ist dabei, alle optimalen Lösungen eines Projektes im Energie-Trilemma zu finden und diese dem Energieplaner verständlich darzustellen. Planer können aus den Resultaten die geeignetste Lösung mittels Güterabwägung wählen. Dabei haben sie die Sicherheit, dass jede wählbare Lösung immer eine optimale Lösung ist, das heißt maximale Sicherheit und Nachhaltigkeit bei gewählter Wirtschaftlichkeit.

Die Bewertung der drei Kriterien im Trilemma berechnet das Empa-Spin-off Sympheny beispielsweise wie folgt:

  • Zuverlässigkeit: Die Energiebilanzen werden für jede Stunde im Jahr erstellt, wobei 15-Minuten-Bilanzen möglich sind. Diese stündlichen Energiebilanzen müssen jederzeit vollständig ausgeglichen sein, das heißt, dass bei der Versorgungssicherheit keine Güterabwägung erlaubt ist und eine 100-Prozent-Erfüllung dieses Kriteriums berücksichtigt wird. Die Dimensionierung der optimalen Technologien erfolgt anhand der Bilanzen.
  • Wirtschaftlichkeit: Ausgangslage sind zwei Beurteilungsgrössen. Die Lebenszykluskosten berücksichtigen die Amortisationskosten über die Lebensdauer der gewählten Technologie plus die jährlichen Betriebskosten (Unterhalt, Wartung und Energie). Die Ertragsrechnung berücksichtigt neben den Lebenszykluskosten auch die Verkaufskosten (Tarife) und berechnet Wirtschaftlichkeitsindikatoren (NPV, IRR).
  • Nachhaltigkeit: Als Beurteilungsgrösse wird der jährliche CO2-Ausstoss mittels stündlicher Bilanzen berechnet. Dabei können die CO2-Emissionen für die Erstellung, den Betrieb und den Rückbau der gewählten Technologien berücksichtigt werden. Die CO2-Lebenszyklusanalyse erlaubt die Beurteilung der Energieströme nicht nur nach der Quantität (Energieintensität), sondern auch nach der Qualität (CO2-Intensität).
Lösungsraum (graue Lösungen) mit Pareto-Front (orange, optimale Lösungen).

Mit leistungsfähigen Cloud-Rechnern wird der immense Lösungsraum aller möglichen Energiesysteme durchsucht. Die jeweils optimalen Lösungen werden schliesslich in einer Pareto-Front dargestellt (Bild oben). Das Kriterium Zuverlässigkeit wird in der Pareto-Front nicht dargestellt, da es immer zu 100 % erfüllt ist. Der Energieplaner kann anhand der einfachen, zweidimensionalen Pareto-Front die geeignetste Lösung für seinen Kunden wählen. Jede Lösung entspricht einer spezifischen Kombination von Technologien, welche im Detail visualisiert und weiter analysiert werden kann.

Energieplaner, die bisher mit viel Aufwand und wenig Präzision ihre Konzepte mit umfangreichen Excel-Tabellen erstellt haben, können mit solchen neuen Planungsinstrumenten umfassende und optimierte Konzepte mit wenig Aufwand für ihre Kunden entwickeln. Die Planer erhalten anstelle zeitraubender Datenverarbeitung mehr Zeit für kreative Arbeit, wie zum Beispiel Sensitivitätsanalysen, um robuste Lösungen zu planen. Solche Instrumente sind als Werkzeuge zu verstehen. Sie ersetzen auch nicht die Fachperson, sondern erleichtern ihr die Arbeit.

Ein Beispiel aus der Praxis

Energy Hub Modell für die Stadt Chur. Lösungen daraus kann die IBC für ihre Quartierkonzepte nutzen.

Die IBC Energie Wasser Chur hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2040 kein CO2 in ihrem Versorgungsgebiet zu emittieren. Um den optimalen Technologiemix für die Energieversorgung zu finden, wurde für die Stadt Chur ein digitales Modell (Bild oben) erstellt. Anhand dieses Modells wurden die Pareto-Fronten für 2018, 2035 und 2050 berechnet (Bild unten). Jeder Punkt auf der Pareto-Front repräsentiert ein optimales Energiekonzept. Auf der Pareto-Front 2035 und 2050 kann die Lösung gewählt werden, mit welcher die Stadt Chur ihre CO2-Ziele von <3 kg CO2/m2EFB6) beziehungsweise null CO2-Emissionen bei minimalen Kosten erreicht. In den Detailanalysen der jeweiligen Lösungen werden die Massnahmen für den Umbau des Energiesystems ersichtlich. Interessant war dabei, zu erkennen, dass das heutige Energiesystem (rechts von Pareto-Punkt 1 im Bild unten7)) in ein nahezu CO2-freies Energiesystem (Pareto-Punkt 3) umgebaut werden kann, ohne die Wirtschaftlichkeit, das heisst die Lebenszykluskosten, zu erhöhen. Zu beachten gilt, dass der Umbau hohe Investitionen benötigt, welche jedoch die Wirtschaftlichkeit gegenüber heute nicht verschlechtern.

Pareto-Fronten der Energieversorgung der Stadt Chur für die Jahre 2018, 2035 und 2050. Graue Punkte zeigen mögliche Lösungen für 2018, welche jedoch nicht optimal sind. Farbig sind die optimalen Lösungen, die Pareto-Fronten und deren Unsicherheiten (gestrichelte Linien) dargestellt. Pareto-Punkt 1 zeigt die kosten-minimale Lösung und Pareto-Punkt 2 zeigt die nachhaltigsten Lösungen für 2018. Pareto-Punkt 3 zeigt die nachhaltigste Lösung (Netto-null-Szenario) 2035, welche in etwa die gleichen Kosten verursacht wie die Ist-Situation 2018.

Im Weiteren kann die IBC einen agilen Transformationsprozess umsetzen. Nach jedem Umbauschritt können die Möglichkeiten für die nächsten Umbauschritte unter Berücksichtigung neuer Technologien und/oder Rahmenbedingungen neu berechnet und in einer angepassten Pareto-Front dargestellt werden. Die IBC ist damit in der Lage, jeden Ausbauschritt anhand aktuellster Informationen zu bestimmen. Damit wird das Risiko für den Umbau des Energiesystems minimiert. Die IBC nutzt die neusten Erkenntnisse der algorithmen-unterstützten Planung, um das Netto-Null-Ziel mit minimalem Risiko zu erreichen, das heißt mit optimalen Lösungen.

  • Es sind verschiedene Ausdrücke für dezentrale Energiesysteme in Gebrauch (nicht abschließende Aufzählung): Multi-Energiesysteme, lokale Energiesysteme, oder im Englischen: Energy Hubs, verteilte Energiesysteme. Hier wird der Begriff "dezentrales Energiesystem" für technische Systeme und Infrastrukturen auf Stufe Quartier, Areal und Stadtteil verwendet.
  • Siehe Swiss Environment and Energy Innovation Monitor, wie zum Beispiel Insolight, Green-Y, Exnaton, Cowa, Aliunid, Clemap etc.
  • Maschinelles Lernen ist ein Unterbereich der künstlichen Intelligenz und bezieht sich auf den Prozess des automatischen Lernens von Computeralgorithmen durch Erfahrung (Umgang mit großen Datensätzen).
  • Unsicherheit und die daraus resultierenden Risiken sind weitere Aspekte, welche in der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden müssen. Algorithmen und Konzepte aus dem Versicherungssektor werden genutzt und auf den Energiesektor angepasst.
  • Das interuniversitär vernetzte Kompetenzzentrum für Energieforschung im Bereich Gebäude und Areale ist seit 2014 operativ und ist Teil der koordinierten Energieforschung der Schweiz.
  • Energiebezugsfläche: Summe aller ober- und unterirdischen Geschossflächen, für deren Nutzung ein Beheizen oder Klimatisieren notwendig ist.
  • Das heutige Energiesystem ist nicht optimal, das heißt die Lebenszykluskosten sind in etwa gleich groß wie Pareto-Punkt 1. Der CO2-Ausstoß ist aufgrund der Ölheizungen, welche durch ein gleichwertiges Heizsystem mit weniger CO2-Emissionen ersetzt werden könnten, höher.

Referenzen

[1] "Totalrevision des CO2-Gesetzes nach 2020", "Abkommen zwischen der Schweiz und der EU über die Verknüpfung der Emissionshandelssysteme", Bafu, 2020, in Vernehmlassung.
[2] "Energiestrategie 2050 Monitoring-Bericht 2018 Langfassung", BFE, 2018, S. 17-19.
[3] M. Sulzer, K. Orehounig, A. Bollinger, "Komplexität ist die neue Einfachheit", Aqua & Gas, 9/2020.
[4] C. Waibel, R. Evins, J. Carmeliet, "Co-Simulation und Optimierung von Gebäudegeometrie und Multi-Energie-Systemen: Interdependencies in energy supply, energy demand and solar potentials", Applied Energy, Nummer 242, 2019, S. 1661-1682.
[5] F. Radulovic, M. Poveda-Villalón, D. Vila-Suero, V. Rodríguez-Doncel, R. García-Castro, A. Gómez-Pérez, "Guidelines for Linked Data generation and publication: An example in building energy consumption", Automation in Construction, Nummer 57, 2015, Seiten 178-187.
[6] F. Orlandi, A. Meehan, M. Hossari, S. Dev, D. O'Sullivan, T. AlSkaif, "Interlinking Heterogeneous Data for Smart Energy Systems", Proc. International Conference on Smart Energy Systems and Technologies (SEST), 2019.
[7] M. Zekić-Sušac, S. Mitrović, A. Has, "Machine learning based system for managing energy efficiency of public sector as an approach towards smart cities" International Journal of Information Management, 2020, 102074.
[8] F Bünning, B Huber, P Heer, A Aboudonia, J Lygeros, "Experimental demonstration of data predictive control for energy optimization and thermal comfort in buildings", Energy and Buildings 211, 10979.
[9] www.bafu.admin.ch/co2-statistk.

2021_03_sulzer_energieplanung.pdf

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